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Kleine Stadt — ganz groß von H.P. Kürten, Bürgermeister

Jedes Jahr im Oktober, wenn die Nastätter ihren traditionellen Oktobermarkt halten, spürt man am augenscheinlichsten die Anziehungskraft dieses kleinen Städtchens, das in der Presse sehr oft als Taunusmetropole apostrophiert wird, ohne dass dies eine Nastätter Wortprägung wäre. Sicherlich wehren sich die Nastätter nicht gegen dieses Wort. Aber feststeht, dass sie es nicht erfunden haben. Wie kann es aber angehen, dass ein Städtchen mit heute etwas mehr als 2600 Einwohnern eine solche Anziehungskraft besitzen kann? Wir wollen versuchen, dies zu untersuchen und wenn möglich eine Antwort auf die Frage zu finden. Schon ein Rückblick in die Geschichte beweist, dass Nastätten ein uralter Siedlungsraum ist. Seine erste nachgewiesene urkundliche Erwähnung in einem Verzeichnis der Abtei Prüm in der Eifel aus dem Jahre 893 lässt dies erkennen. Und als gut 300 Jahre später die Brüder Eberhard und Diether von Katzenelnbogen ihre Grafschaft teilten, teilten sie auch Nastätten. Ein Beweis dafür, dass hier etwas Besonderes war. Jeder wollte Nastätten lieber halb, als es einem allein für etwas Anderes lassen. Um 1.500 und 1.600 herum führten Augsburger Handelshäuser Posten Nastätter Tuches zu guten Preisen und die Blaufärberei stand auf ihrem Höhepunkt. Danach waren es vor allem die Nastätter Schuhmacher, die mit ihren mit Schuhen gefüllten Kiepen weit übers Land zogen und den Nastätter Namen verbreiteten. Und wenn Nastätten auch bis heute noch nicht an einer sehr wichtigen Verkehrsader liegt, so bestand doch seit den Anfängen der Post hier eine Poststation. Das Hotel „Alte Post“ trägt nicht nur die historischen Namen, sondern das Haus war tatsächlich das Haus der Thurn- und Taxisschen Post, wo die Pferde gewechselt wurden und die Gäste sich frischmachen und stärken konnten. In den ersten zehn Jahren des 20. Jahrhunderts waren es drei Ereignisse, die dem Städtchen neue Impulse gaben. Zum ersten wurde die nassauische Kleinbahn gegründet. Ihre Linien verliefen von St. Goarshausen über Nastätten nach Zollhaus, und auch von Braubach kam eine zweite Linie herauf in die Taunusberge, um in Nastätten auf die andere Linie zu treffen. Hier war der Mittelpunkt des Unternehmens; hier das große Lokomotiven-Depot und die Reparaturwerkstatt für den ganzen Wagenpark. Die Bahnlinie ist zwar nicht mehr, aber noch heute gehen von hier die Busse der Kleinbahn, die zusammen mit denen der Bundespost die verkehrsmäßige Erschließung des vorderen Taunusgebietes vollbringen. Das zweite Ereignis war der Bau der Spindler-Seidenfabrik, die auch heute noch das einzige Industrieunternehmen in Nastätten ist. Und als drittes wurde ein Gaswerk gebaut und Nastätten bekam eine für hiesige und damalige Verhältnisse großartige Straßenbeleuchtung. Längst sind die Gaslampen modernen Stromleuchten gewichen und vor sechs Jahren schloss das kleine Werk aus Unrentabilität seine Pforten. In diesem Jahr haben dagegen die MKW, also die Hersteller der anderen Energieart, damit begonnen, ein neues Inspektionsgebäude zu errichten. Wie sieht es nun heute in Nastätten aus? Zurzeit sind in erster Linie der Handel und das Handwerk die tragenden Säulen der kleinen Stadt. Die Landmaschinenhändler und Werkstätten ziehen vor allem die landwirtschaftlich orientierte Bevölkerung der weiten Umgebung nach Nastätten. Und dann, wenn die Leute erst einmal hier sind, kaufen sie natürlich auch vieles andere. Aber nicht nur das, sie gehen auch - vor allem die Damen - zu den Verschönerungsaposteln, den Friseuren. Und wenn alle Einkäufe getätigt sind, wird eine Pause eingelegt, in der etwas für das leibliche Wohl getan wird. Daher die vielen Gaststätten und Cafés, oder sind Sie nicht auch der Meinung, dass 18 voll-konzessionierte Betriebe eine stattliche Zahl sind? Aber es sind auch noch andere Fakten, die den zentralen Charakter Nastättens bestimmen. Das sind einmal die Behörden: das Amtsgericht, das staatliche Forstamt, das große Postamt — von hier werden über 50 Ortschaften versorgt — und das Fernsprechamt. Zum zweiten sind es die Ärzte und Zahnärzte, sowie Apotheke und Drogerie, die die Leute anziehen. Wen wundert es, dass deshalb auch zwei Bankinstitute, die Nassauische Sparkasse und die bodenständige jetzt 101 Jahre alte Volksbank hier vertreten sind. Als viertes kommt das Altersheim und mehr noch das Krankenhaus als Anziehungspunkt dazu. Fünftens sind es die kulturellen Einrichtungen, die den Charakter eines Mittelpunktes verstärken: Da ist zunächst die Landwirtschaftsschule mit ihrem Beratungsdienst, die landwirtschaftliche Berufsschule für den Kreis und die Realschule. Aber auch das neue Schwimmbad kann dazu gezählt werden. Ferner die Kinos und das recht aktive Volksbildungswerk mit ganzjährigen Veranstaltungen und der neu gegründete Theaterring. Zu all dem bisher Gesagten tritt noch eine weitere Komponente. Nastätten ist seit vielen Jahren Fremdenverkehrsgemeinde. Wenn auch keine Rekordzahlen vorgewiesen werden können, so ist doch eine ständige Aufwärtsentwicklung zu verzeichnen. Und um einer neuen Reiseart entsprechen zu können, wurde vor drei Jahren ein Campingplatz angelegt und weil die Fläche in diesem Jahr nicht mehr reichte, soll der Platz für die nächste Saison erweitert werden. Und wie wird es weiter gehen? Es wird nicht einfach sein, eine Prognose zu geben und nicht alle Zukunftsvermutungen und Erwartungen werden sich erfüllen, aber dennoch dürfte ein Blick voraus recht interessant sein und deshalb gewagt werden. Der einheimische Handel sieht sich wie an anderen Plätzen auch einer starken Konkurrenz des Versandhandels gegenüber. Was er nicht zu fürchten braucht, sind große Kaufhäuser und Konzernfilialen. Da aber die Motorisierung auch das flache. Land erfasst hat, schrumpfen die Entfernungen in die Großstädte Koblenz und Wiesbaden und werden somit doch zu einer gewissen Konkurrenz. Ihr zu begegnen versuchen die Nastätter Gewerbetreibenden damit, dass sie ihre Läden modernisieren und vergrößern. In der gleichen Richtung marschiert die Gastronomie. Neben ansprechenden Renovierungen in der letzten Zeit treten größere An- und Umbauten und zwei Neubauten. Die Post hat zur Aufrechterhaltung des Postbusverkehrs eine großzügige moderne Wagen- und Pflegehalle errichtet. Das Fernsprechamt bei den heute noch freundlichen Damen per Hand vermitteln, sucht Gelände für den Bau eines Selbstwählamtes. Der Neubau des modernen Krankenhauses mit sechs Geschossen für 140 Betten dürfte noch dieses Jahr rohbaufertig werden. Auf kulturellem Gebiet ist der Neubau einer 12-klassigen Volksschule nebst Turnhalle und Sportplatz geplant. Hier und da spricht man davon, dass in dem alten Volksschulgebäude unter anderem eventuell eine ein- oder zweiklassige Hilfsschule errichtet werden soll. Auch sind die Vorbereitungen für den Bau eines evangelischen Kindergartens angelaufen. Die stärkste Veränderung in der Struktur Nastättens wird aber zweifellos die vorgesehene Errichtung von Bundeswehrkasernen für ein Bataillon und über 100 Wohnungseinheiten für die dazugehörigen Führungskräfte nebst ihren Familien mit sich bringen. Alles in allem darf man also hoffen und erwarten, dass Nastätten nicht nur weiterhin der Mittelpunkt des „Blauen Ländchens“, die Zentrale des alten Einrichsgaues bleiben wird, sondern sogar seine Anziehungskraft verstärken kann.

start/zeitungen/z071-20.txt · Zuletzt geändert: 2021/02/07 16:54 von admin